Schluss mit dem inflationären Entschuldigen!

Oft gebe ich anderen Menschen den Rat, das Wort „Entschuldigung“ aus ihrem Wortschatz zu streichen. Manchmal höre ich dann, das sei ja ganz schön respektlos. Aber genau das Gegenteil ist der Fall!

Stellen Sie sich vor, Sie rempeln im Gedränge aus Versehen jemanden an. Dann sagen Sie vermutlich ganz automatisch „Entschuldigung!“ Aber denken Sie mal nach: Haben Sie in dieser Situation wirklich Schuld auf sich geladen?

Schuldgefühle sind Fantasien bezogen auf die Vergangenheit: Etwas ist passiert, man hat etwas getan oder unterlassen, und man beginnt zu denken, hätte ich mich anders verhalten, wäre es besser, richtiger gekommen.

Aber haben wir wirklich einen Beweis, dass es „besser“ gekommen wäre? Nein. Wir haben diesen Beweis genauso wenig wie wir Schuld haben, dass etwas nun anders gekommen ist als es theoretisch hätte kommen können! Was wäre gewesen, wenn Sie nicht mit dem Anderen zusammengestoßen wären? „Wissen“ Sie, dass es dann besser gelaufen wäre? Stopp mit der Schuldfantasie!

Von Dr. John Demartini habe ich etwas wichtiges gelernt: Wenn er aus Versehen jemanden anrempelt, sagt er: „Oh, interessant! Jetzt bin ich neugierig, warum uns das Universum wohl zusammengeführt hat!“ — Kein einziger Gedanke an Schuld, oder gar Entschuldigung.

Wer entschuldigt wen?

Natürlich gibt es auch Situationen, in denen man wirkliche Schuld auf sich laden kann. Aber wenn wir tatsächlich Schuld tragen, können wir uns dann einfach so entschuldigen? Ist es damit getan, wenn z. B. ein Mörder sagt „Ja, ich habe hier gemordet und entschuldige mich,“ und das war’s dann? Natürlich nicht. Wer schuldig ist, kann sich nicht einfach selber entschuldigen, er kann höchstens um Entschuldigung bitten. Und diejenigen, denen er etwas schuldet, können dann entscheiden, ob sie ihm die Schuld erlassen. Ob sie ihm die Schuld nehmen, d. h. ob sie ihn ent-schuldigen. Bzw. in zivilisierten Gesellschaften gibt es (gesetzliche) Regeln, wie die Schuldfrage gelöst wird. Im Vaterunser wird klar ausgesprochen: bitte vergib uns und wir vergeben unseren Schuldigern. Keiner kann es selbst für sich!

Mit dem inflationären Entschuldigen entsteht allzu leicht der Anschein, man könne tun und lassen was man will und herumlaufen und jeden anrempeln oder schädigen. „Ist doch so einfach! Wenn ich jemanden anrempele, sage ich einfach mal Entschuldigung und die Sache ist vorbei und der andere muss jetzt wieder lieb zu mir sein!“ Aber so einfach ist es natürlich nicht. Der Respekt verlangt, dass ich um Entschuldigung bitte, wenn ich etwas Schlechtes getan habe. Könnte ich mich einfach selbst entschuldigen, würde das ja bedeuten, dass ich entscheide, wie andere zu ticken haben. Und das wäre extrem respektlos.

Wörter sind Gedanken

Im Regelfall laden wir mit dem, was wir tun, keine Schuld auf uns, und deshalb passt das Wort – oder genauer die Floskel – „Entschuldigung!“ überhaupt nicht. Und dort, wo wir wirklich die Verantwortung für etwas schlechtes übernehmen sollten, haben wir die Pflicht den anderen zu fragen und zu bitten: „Ist es OK, wenn ich es auf diesem Wege wieder gut mache? Entschuldigst Du mich?“

Also: Kein inflationäres Entschuldigen! Entweder es gibt keine Schuld, oder ich habe wirklich etwas gut zu machen, und dann reicht eine Floskel nicht. Wir wissen alle, wie hoch der Einfluss von Sprache auf unsere Gedanken und Gefühle ist. Deshalb sollten wir mit dem Wort „Entschuldigung“ ohnehin sehr vorsichtig sein, denn damit sagen wir uns selbst: „Ich habe Schuld!“ Und wir kreieren Schuldgefühle in uns. Schuldgefühle machen übrigens mit die schlechteste Körperchemie (kann man messen!).

Wer darauf schaut, wird achtsamer sein: Sowohl den Mitmenschen gegenüber als auch sich selbst. Denn er wird mit einer anderen Verantwortung und einem anderen Respekt durchs Leben gehen. Und wer respektvoll behandelt werden will, sollte den Respekt zuerst den anderen geben.

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mit Wolfgang Sonnenburg vom 19. Dezember 2024

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